Zwei Wochen lang – vom 13. bis 26. November 2016 – waren zwei jeweils neunköpfige Delegationen japanischer Fachkräfte in Deutschland unterwegs, um sich über inklusive Pädagogik und soziale Arbeit im sozialen Nahraum zu informieren. „Japan in“ nennt Dorothea Wünsch von IJAB das. Sie hat das Studienprogramm im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gemeinsam mit dem Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin organisiert. „Japan out“, also Studienprogramme für deutsche Fachkräfte in Japan, hatten bereits im Mai zu denselben Themen stattgefunden.
Die beiden japanischen Gruppen reisten unabhängig voneinander, kamen aber zu einem gemeinsamen Seminar mit den deutschen Teilnehmer(inne)n, die im Frühjahr in Japan gewesen waren, in Köln zusammen. Sie präsentierten Eindrücke ihrer Reise und formulierten Empfehlungen für Inklusion und Sozialraum bezogene Arbeit für beide Länder. Ein guter Grund, Ihnen zuzuhören.
Beobachtungen und Empfehlungen
Die Gruppe „A1“ – inklusive Pädagogik – hat ein buntes Spektrum von Einrichtungen besucht, von der Kita über schulische und außerschulische Bildungsorte bis zu Werkstätten und beruflichen Bildungszentren. Was ist aus japanischer Sicht interessant in Deutschland? Den japanischen Fachkräften ist der unterschiedliche Umgang mit dem Begriff Inklusion aufgefallen: Während er sich in Japan auf Menschen mit Behinderungen bezieht, wird er in Deutschland erweitert gebraucht, beispielsweise auch für junge Migrant(inn)en. Das deutsche Schulsystem haben sie als unflexibler wahrgenommen, als das japanische. Dort würde von der Regelschule bis zu ambulantem Lernen zu Hause eine größere Vielfalt von inklusiven Lernorten angeboten. Gut gefallen hat ihnen in Deutschland die frühe und kontinuierliche Berufsorientierung innerhalb und außerhalb von Schule und die damit verbundene enge Kooperation zwischen Schulen, der Agentur für Arbeit und Fördereinrichtungen. Auch dass es in Deutschland eine staatliche Förderung bei der Anstellung von Menschen mit Behinderung gibt, stößt auf Interesse.
Die maßgebliche Rolle der Bundesländer bei der Bildung und die daraus resultierende Vielfalt regional unterschiedlicher Angebote ist für Japaner ungewohnt – das geht nicht nur ihnen so. Die japanischen Fachkräfte empfehlen eine stärkere Kooperation der Bundesländer. Ebenso empfehlen sie mehr inklusive Angebote in den außerschulischen Einrichtungen, beispielsweise in Jugendzentren. Eines aber scheint in Japan und Deutschland gleich zu sein: die geringe Entlohnung der Erzieher/-innen und die damit empfundene geringe gesellschaftliche Wertschätzung. Von den deutschen Kolleg(inn)en ernten sie energisches Kopfnicken für ihren Wunsch nach Verbesserungen für diese Berufsgruppe.
Für die Gruppe „A2“ – Soziale Arbeit für Kinder und Jugendliche im sozialen Nahraum – war der Aufenthalt geprägt durch die Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule. Sie vermissen in Deutschland eine Zusammenarbeit beider Bildungsbereiche auf Augenhöhe. „Lehrer denken, Fachkräfte der außerschulischen Jugendarbeit positionieren sich zu sehr auf der Seite der Jugendlichen“, glaubt eine japanische Teilnehmerin und bekommt dafür Applaus von ihren deutschen Kolleg(inn)en, die sich verstanden fühlen. Die feste Verankerung von Schulsozialarbeit empfinden die japanischen Gäste hingegen als nachahmenswert. Schulsozialarbeiter gäbe es in Japan nicht an jeder Schule, berichten sie, und es gäbe für sie auch keine vorgeschriebene Qualifikation.
Woanders sind die Wiesen grüner
Der zweite Tag des Seminars gab Japaner(inne)n und Deutschen Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Da über die Inhalte der Studienreisen gesprochen werden soll, findet dies in getrennten Workshops statt. Dorothea Wünsch von IJAB moderiert den Workshop „inklusive Pädagogik“. Gibt es so etwas wie eine gemeinsame Vision von Inklusion? Wünsch teilt Papier und Stifte aus, ein Bild von Inklusion und der eigenen Rolle darin soll entstehen. „Ich unterrichte Japanisch“, erzählt Machiko Tokuchi, Koordinatorin für Sonderpädagogik an einer Schule in Miyakonojyo in der Präfektur Miyazaki, und hält ihr Bild hoch. „Könnte ich besser malen, wäre ich Kunstlehrerin geworden.“ Machiko hat eine Gruppe unterschiedlicher Menschen gemalt. Sie haben unterschiedliche Farben, Größen, sind Männer und Frauen, einer sitzt im Rollstuhl, einem anderen fehlt ein Arm. Sie balancieren auf einer Art Brett, das von einer Person gestützt wird. „Das bin ich“, sagt Machiko und deutet auf die Person, „so bunt wünsche ich mir unsere Gesellschaft und ich möchte dabei helfen, dass wir alle zusammenleben können“.
Diese Haltung teilen alle im Raum – egal ob Deutsche oder Japaner/-innen. Was hat man im jeweils anderen Land erlebt? Die deutschen Teilnehmer/-innen begeistern sich für die konsequente Barrierefreiheit in japanischen Städten. „Ihr seid aber hauptsächlich in Tokio gewesen“, merkt eine Japanerin skeptisch an. Die japanische Delegation ist mehrheitlich überzeugt, dass Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe schon weit in der deutschen Gesellschaft vorangekommen sei. Eine deutsche Kollegin schüttelt den Kopf. „Nein, wir haben euch natürlich die Einrichtungen gezeigt, die wir für vorbildlich halten“, meint sie. Das sage noch nichts über den Grad der gesellschaftlichen Akzeptanz von Inklusion. Während die Deutschen den sozialen Zusammenhalt in der japanischen Gesellschaft bewundern, beklagen Japaner/-innen ihren Zerfall. Ein bisschen klingt der Wunsch durch, im jeweils anderen Land den Ort entdeckt zu haben, in dem die eigene Vision schon Wirklichkeit ist. Hinter dem Zaun ist die Wiese immer etwas grüner, als auf der eigenen Seite. Gut, dass man nochmal darüber gesprochen hat und nun weiß, dass der gemeinsame Weg noch ein langer ist. Wegweiser auf diesem Weg deuten nicht auf perfekte Orte in fernen Ländern, wohl aber zu einem Dialog, der hilft voranzukommen und Impulse und Inspiration für die eigene Arbeit geben kann.
Der Dank gilt allen beteiligten Fachkräften und gastgebenden Einrichtungen
- aus dem frühkindlichen Bereich: die Integrative Kindertagesstätte „Rheinlinge“ der Werkstätten für behinderte Menschen Mainz gemeinnützige GmbH (WFB) und der Waldkindergarten "Waldkönige" in Frechen;
- aus dem schulischen Kontext: das Vorhaben „Inklusive Schulentwicklung in Berlin“ der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, die „Inklusive Schwerpunktschule“ Schule am Königstor (integrierte Sekundarschule) in Berlin, die Helene-Haeusler-Schule (Förderzentrum bzw. Sonderschule) in Berlin, die Pestalozzi(grund)schule Eisenberg (Pfalz);
- aus dem Übergang von der Schule in die Arbeitswelt: das Projekt „Praxislerngruppen“ (zur Berufsvorbereitung) in den Werkstätten des Beruflichen Bildungszentrum Berlin-Mitte des CJD Berlin-Brandenburg, das Projekt „Übergang Schule-Beruf für Schüler(inne)n mit Beeinträchtigung“ des Zentrums für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen Mainz e.V. (ZsL Mainz e.V.);
- aus dem außerschulischen Bereich: die offene Kinder- und Jugendeinrichtungen „Indiwi“ in Berlin, das Qualifizierungsteam der Trainings von Teamer(innen) für Teilhabe und Vielfalt der Deutschen Behindertensportjugend, die Aktion Mensch – JAM! und der JAM! Jugendbeirat, der Projektbereich „Inklusion“ der „Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft“, der Elternverein „mittendrin e.V.“, das Projekt „Barrierefrei Kommunizieren“ der tjfbg gGmbH;
- sowie den kommunalen Vertreter(inne)n in Mainz, die auf kommunaler Ebene mit der Umsetzung von Inklusion betraut sind (wie bspw. der Fachdienst Inklusion des Amtes für Jugend und Familie der Stadt Mainz, die Behindertenbeauftragte und der Beirat für die Belange von Menschen mit Behinderung).
Die Erfahrungen zum Aufenthalt der deutschen Fachkräftegruppe im Mai in Japan sind in der online-Dokumentation zu finden: Deutsch-Japanisches Studienprogramm zum Thema „Inklusive Pädagogik“ vom 14. bis 28. Mai 2016 in Japan