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Laden Yurttagüler
Türkei

Selbst unter Druck überlebt die türkische Zivilgesellschaft

Einblicke von Laden Yurttagüler

Die Soziologin Laden Yurttagüler forscht seit Jahren zur türkischen Zivilgesellschaft und zur Wirkung des Jugendaustauschs auf junge Menschen. Welche Spielräume hat die Zivilgesellschaft und welche Auswirkungen haben die Präsidentschafts- und Kommunalwahlen? Die Redaktion von ijab.de hat nachgefragt.

06.05.2024 / Christian Herrmann

IJAB: Frau Yurttagüler, wie steht es um die türkische Zivilgesellschaft?

Laden Yurttagüler: Das ist nicht mit einem Satz zu beantworten, denn die türkische Zivilgesellschaft ist ein vielfältiges und uneinheitliches Feld. Ich habe in den letzten Jahren viel zu diesem Thema gearbeitet und geforscht. In der letzten Dekade sind meine Kolleg*innen und ich immer davon ausgegangen, dass die Zivilgesellschaft aufgrund des politischen und ökonomischen Umfelds schrumpfen würde. Das hat sich als falsch erwiesen. Tatsächlich wächst die Anzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen und auch ihre Angebote nehmen zu. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einem gibt es zunehmend mehr regierungsnahe Organisationen, für die sich viele Menschen ehrenamtlich engagieren. Sie beschäftigen sich nicht mit Themen wie Menschen- und Bürgerrechte, sondern mit Wohltätigkeit oder Kultur. Ein weiterer Grund liegt in der Flüchtlingskrise. Die Anzahl der Organisationen, die sich für Geflüchtete engagieren, hat sich verdoppelt, wenn nicht sogar verdreifacht.

Während einige derjenigen, die sogenannte liberale Themen bearbeitet haben, also Menschenrechte, Frauenrechte oder LGBTQ, sich zurückgezogen haben, beanspruchen nun andere, dienstleistungsorientierte Organisationen das Vakuum, das sie hinterlassen haben und füllen es mit regierungsfreundlichen Werten. Gerade für Jugendorganisationen sind die politische Atmosphäre und die bürokratische Kontrolle von Organisationen ein Problem. Seit 3 bis 4 Jahren haben sie auch zunehmende wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Wirtschaftskrise führt zu weniger öffentlicher und privater Förderung und individuellen Spenden. Dazu kommen Probleme mit dem Rechtsrahmen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Das Innenministerium kann die Buchhaltung prüfen, wann immer es will. Das ist nicht gerade angenehm und zudem aufwändig. Eine zivilgesellschaftliche Organisation muss außerdem ein physisches Büro vorweisen und es auch bezahlen können. Das ist keine direkte Repression, aber es hat Auswirkungen. Wenn beispielsweise eine Gruppe von 20 Leuten einen Förderantrag stellen möchte, dann muss sie sich als Organisation registrieren lassen und einen physikalischen Raum als Standort angeben. Im Dezember 2020 hat ein Gesetz zur Terrorismusbekämpfung das türkische Parlament passiert. Wenn die Regierung es für notwendig erachtet, kann sie mit diesem Gesetz eine Organisation auflösen und/oder einen Treuhänder ernennen. Die Türkei steht mit dieser Entwicklung nicht allein. Russland, Ungarn und weitere Länder haben ähnliche Gesetze.

Es sind die jungen Menschen, die sich engagieren

Aber selbst unter diesem Druck überlebt die türkische Zivilgesellschaft. Es sind hauptsächlich junge Menschen, die sich für Geschlechtergerechtigkeit, Klimaschutz, Tierrechte oder politische Partizipation engagieren. Das sind oft keine formalen Strukturen. Auch die Jugendorganisationen funktionieren weiterhin. Mit ihren Aktivitäten versuchen sie unterhalb des Radars zu bleiben. Wenn sie beispielsweise Förderung für ein Projekt zum Gender Mainstreaming erhalten, dann machen sie daraus keine öffentliche Kampagne, sondern bilden Netzwerke und bringen Organisationen und Aktivisten zusammen, mit denen sie ohne Öffentlichkeit arbeiten. Wir beobachten das auch bei LGBTQ-Themen oder in der Frauenbewegung. Gerade letztere ist in der Türkei sehr stark.

IJAB: Welche Auswirkung hat das, was Sie beschreiben, für den Jugend- und Fachkräfteaustausch?

Laden Yurttagüler: Dazu erst einmal ein paar praktische Anmerkungen. Wer keinen Pass hat, bekommt kein Visum und hat damit keine Möglichkeit zum physischen Austausch. Das beschränkt die Teilnehmer*innen auf die Mittel- und Oberschicht – oder man kennt jemanden im Regierungsapparat. Die Wirtschaftskrise und der Wertverlust der Türkischen Lira machen zudem Reisen nach Europa sehr teuer. Viele junge Menschen können sich das nicht leisten.

Was das politische Umfeld angeht: Vor 15 Jahren, als ich selbst an Jugendaustauschen beteiligt war, konnten wir über alles sprechen – Menschenrechte, Minderheitenrechte, was auch immer. Heute sind die Themen zurückhaltender geworden. Andererseits machen junge Menschen und Fachkräfte Kontakte, die für sie sehr fruchtbar sind – in beiden Richtungen. Sie erleben Diskussionsräume ohne Kontrolle. Was und wie wir voneinander lernen, hat sich seit Covid verändert. Die Austausche sind jetzt offener für non-formales Lernen. Natürlich braucht Peer-Learning Strukturen, aber es gibt definitiv mehr Möglichkeiten zu lernen.

Für Jugendorganisationen werden sich vielleicht neue Räume öffnen

IJAB: Welchen Einfluss haben die jüngsten Wahlen auf die Zivilgesellschaft? Präsidentschaftswahlen und Kommunalwahlen deuten in sehr unterschiedliche Richtungen.

Laden Yurttagüler: Es gibt bisher keine Untersuchungen zu den Auswirkungen, daher kann ich nur meine persönlichen Eindrücke schildern. Für diejenigen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, war der Ausgang der Präsidentschaftswahlen sehr enttäuschend. Ich würde ihre Stimmung nicht als deprimiert, aber doch als in sich gekehrt und verunsichert beschreiben. Sie fragten sich, was politisch und wirtschaftlich auf sie zukommt, was mit ihnen geschehen könnte. Das hat vor den Kommunalwahlen zu Pessimismus geführt. Aber durch die hohe Wahlbeteiligung ist es anders gekommen. In allen türkischen Metropolen hat die Opposition gewonnen. In diesen Städten wird 80% der Wirtschaftsleistung generiert. Wir können auch deutliche Unterschiede beim Wahlverhalten zwischen Stadt und Land sowie zwischen dem Westen und dem Osten des Landes erkennen. Das spiegelt sich auch im Zustand der Zivilgesellschaft wieder. Ich denke, dass die Veränderungen zu neuen Möglichkeiten führen werden, zum Beispiel zu mehr Kooperationen zwischen Zivilgesellschaft und Lokalpolitik. Für Jugendorganisationen werden sich vielleicht neue Räume öffnen, zum Beispiel in den Jugendzentren vor Ort. Vielleicht werden Jugend und Kultur auch stärker zusammenkommen. Allerdings wissen wir nicht, was in den regierungsfreundlichen Teilen der Zivilgesellschaft gedacht wird. Wir sehen, wie sie nach außen agieren, wie sie gegen Abtreibung sind, gegen Frauenrechte, gegen LGBTQ. Aber wir kennen ihre internen Diskussionen nicht und wissen nicht, was die Wahlen bei ihnen angestoßen haben oder nicht. Denn so lange sie nicht gewalttätig sind, sind auch sie Teil der Zivilgesellschaft – ob uns das gefällt oder nicht.

Vier Menschen sprechen miteinander.
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Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
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