Driss El Ghazouani Driss El Ghazouani
Driss El Ghazouani
Nordafrika

„Die Zivilgesellschaft muss am Leben bleiben“

Marokko in der Corona-Krise

Die Corona-Pandemie trifft auch die Länder Nordafrikas immer härter. Die Infektionszahlen sind in jüngster Zeit in die Höhe geschnellt. Marokko ist besonders stark betroffen. Darunter leiden die Jugendarbeit und die gesamte Zivilgesellschaft. IJAB hat mit Driss El Ghazouani von der NGO Chabab Time über die Situation gesprochen.

05.11.2020 / Christian Herrmann

ijab.de: Driss, deine NGO heißt Chabab Time. Was heißt das?

Driss El Ghazouani: Chabab bedeutet junge Menschen auf Arabisch. Und Time bedeutet, dass es für junge Menschen Zeit ist, aktiv zu werden und zu handeln.

ijab.de: Was genau macht ihr?

Driss El Ghazouani: Uns geht es um das Verhältnis von Jugend und Politik. Jugendpolitik ist im öffentlichen Raum in Marokko praktisch verschwunden. Wir wollen, dass junge Menschen in der Öffentlichkeit und in der Politik wieder sichtbar werden und dass ihre Wünsche gehört werden. Wir sind in vielen Regionen aktiv und haben 12 Koordinatorinnen und Koordinatoren, die die Arbeit vor Ort begleiten. Jede Region handelt eigenständig und führt ihre eigenen Aktivitäten durch. Unsere Aktivitäten sind vielfältig: In Casablanca haben junge Leute Führung durch Aufgabenübertragung unter die Lupe genommen, in Zagora haben wir uns mit Jugendbeteiligung und sozialem Unternehmertum beschäftigt und in Essaouira mit der immateriellen mündlichen Kultur – für uns eine Geschichte, um Frieden zu schaffen.
Mit IJAB verbindet uns die multilaterale Konferenz, die wir mit Partnern aus Ägypten, Tunesien und Deutschland im vergangenen Jahr in Casablanca durchgeführt haben. Dieses Netzwerk ist für uns sehr wichtig und die Konferenz war supergut.

ijab.de: Wie alle Länder ist auch Marokko von der Corona-Pandemie betroffen. Wie ist die Situation im Moment?

Driss El Ghazouani: Sehr schlecht, besonders in den letzten Tagen und Wochen. Wir haben täglich tausende Neuinfektionen und Dutzende von Menschen sterben jeden Tag. Die Situation ist also kritisch. Die Regierung ergreift jetzt regionale Maßnahmen, um die Epidemie einzudämmen. Das bedeutet, dass einige Städte von der Außenwelt abgeriegelt werden – das betrifft vor allem die großen Städte. Man darf nur noch mit einer Sondererlaubnis der lokalen Behörden dort hin. Gründe können zum Beispiel dringende Verwandtschaftsbesuche oder medizinische Hilfe sein. Auch der öffentliche Nahverkehr ist eingeschränkt. Ökonomisch betrachtet ist die ist die Epidemie eine Katastrophe. Die offizielle Statistik sagt uns, dass wir bereits 20 % der Jobs im Lande verloren haben.
Was Bildung angeht – ich unterrichte auch an der Universität – so sind wir auf E-Learning umgestiegen. Das hat das Virus jedoch nicht davon abgehalten ins Bildungssystem und in den Lehrkörper einzudringen.

ijab.de: Funktioniert das mit dem E-Learning? Aus vielen Ländern hören wir, dass nicht ausreichend technische Mittel dafür vorhanden sind und das Lehrpersonal über keine Erfahrung damit verfügt.

Driss El Ghazouani: Es kommt darauf an und ist von den jeweiligen Schulen, Universitäten, Professoren und Lehrern abhängig. Hier an der Universität von Rabat beobachte ich sogar eine neue Effizienz. Früher, als wir noch Präsenzveranstaltungen hatten, sind viele Studentinnen und Studenten nicht zu den Vorlesungen erschienen. Zum Beispiel, weil sie im ländlichen Umfeld der Stadt leben und der öffentliche Nahverkehr nicht funktioniert hat. Zu den Online-Vorlesungen kommen sie alle. Wir arbeiten jetzt viel mit Google Meets und das gibt den Studierenden die Möglichkeit, gemeinsam zu lernen. Ich habe das mit einer gewissen Bitterkeit zur Kenntnis genommen, denn es sagt etwas über den Mangel an Bildungsgerechtigkeit aus, den wir unter normalen Bedingungen haben.
Hier in Rabat sind wir gut ausgerüstet, aber in ländlichen Regionen sieht es anders aus. Nicht alle Studentinnen und Studenten können sich ein Smartphone oder ein Laptop leisten und Professoren und Lehrer wissen oft nicht, wie sie mit der Technik umgehen sollen. Das E-Learning hat auch Kritik ausgelöst.

ijab.de: Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Jugendarbeit aus?

Driss El Ghazouani: Sie wirkt sich natürlich aus. Viele Aktivitäten sind verschoben worden, denn wir bleiben jetzt zuhause. Wir spüren es beim Engagement. Viele unserer Mitglieder haben ihren Job verloren oder können nicht reisen. Bei der Finanzierung von Projekten spüren wir es auch. Natürlich haben wir versucht, die Initiative zu ergreifen und es mit Online-Events versucht. Aber das hat sich als wenig effizient erwiesen. Die Aktivität vor Ort fehlt einfach. Immerhin hält das unsere Organisation irgendwie am Leben. Wir müssen abwarten, bis die Krise vorbei ist und dann weitergehen.

ijab.de: Was für Unterstützung braucht ihr jetzt?

Driss El Ghazouani: Wenn ich mit Freunden und Partnern rund um die Welt spreche, dann merke ich, dass die Probleme in vielen Ländern ähnlich sind. Was wir vor allem brauchen ist die Unterstützung unserer Regierung. Das ist das Wesentliche. Die NGOs haben viele Aktivitäten verschieben müssen und viele können noch nicht einmal mehr die Rechnungen für Strom und Wasser bezahlen. Einige internationale Programme funktionieren, aber auch unsere Regierung muss etwas tun. Sie muss ein Interesse daran haben, die Zivilgesellschaft am Leben zu erhalten. Denn die Zivilgesellschaft steht für Menschenrechte, die Rechte der Jugend und für ein besseres Marokko.

Eine Frau spricht in ein Mikrofon auf einer Bühne, fünf weitere Menschen hören ihr zu.
Über die Zusammenarbeit mit Nordafrika

IJAB vernetzt die Träger im Austausch mit Tunesien, Ägypten und Marokko. Wir bieten Interessierten Information und Beratung zum Jugend- und Fachkräfteaustausch mit Nordafrika an.

Ansprechpartnerinnen
Christiane Reinholz-Asolli
Referentin für internationale jugendpolitische Zusammenarbeit
Tel.: 0228 9506-112