Wolfgang Hinz-Rommel Wolfgang Hinz-Rommel
Wolfgang Hinz-Rommel, Diakonisches Werk Württemberg
Türkei

Etwas mehr Gelassenheit würde uns guttun

Freiwilliges Engagement in Deutschland und der Türkei

Ist in Deutschland bei Ehrenamt und freiwilligem Engagement alles geregelt und in der Türkei nicht? Können beide Seiten etwas voneinander lernen – oder eher nicht? Wolfgang Hinz-Rommel ist Leiter der Abteilung Freiwilliges Engagement beim Diakonischen Werk Württemberg und kennt die Türkei gut. Die Redaktion von ijab.de hat mit ihm gesprochen.

22.10.2021 / Christian Herrmann

ijab.de: Herr Hinz-Rommel, bei Ihnen spürt man ist eine große Sympathie für die Türkei, für Land und Leute. Woher kommt die?

Wolfgang Hinz-Rommel: Ich beschäftige mich tatsächlich schon lange mit der Türkei und habe auch eine Weile dort gelebt. Es fing mit einem ersten Projekt im Studium an, das war in Gaziantep. Auf diese Zeit gehen viele Freundschaften zurück und ich habe damals auch Türkisch gelernt. Ich bin immer wieder in die Türkei gereist. In den letzten Jahren bin ich allerdings nicht mehr dort gewesen, verfolge aber weiter die Entwicklungen.

ijab.de: Das erklärt noch nicht ganz die Faszination.

Wolfgang Hinz-Rommel: Wenn man die Sprache spricht, dann hat man einen anderen Zugang zu Literatur, Lyrik oder auch zur Musik. Man versteht einfach mehr. Ich habe viel Gastfreundschaft erlebt, viel Herzlichkeit. Freundschaften spielen natürlich auch eine Rolle. Es war für mich immer interessant zu sehen, wie meine Freunde – trotz aller Kritik an den jeweiligen Regierungen – stolz auf ihr Land und dessen Kultur sind.

ijab.de: Sie haben dieses Interesse an der Türkei dann später in den beruflichen Kontext überführt. Was genau haben Sie gemacht?

Wolfgang Hinz-Rommel: Ich war zunächst in der offenen Jugendarbeit, in einem Jugendzentrum, und habe mich vor allem um türkischstämmige Jugendliche gekümmert. Ab 1993 war ich dann Fachberater für „Ausländische Kinder und Jugendliche“ im Diakonischen Werk – so hat man das damals genannt. Ich habe mich lange für die interkulturelle Öffnung des Diakonischen Werks engagiert und habe dazu zum Beispiel Tagungen organisiert. Das Thema beschäftigt mich immer noch. Es ist interessant, wie sich die Begriffe im Lauf der Zeit gewandelt haben. Heute sprechen wir ja eher von Vielfalt.

Unterschiedliche Traditionslinien

ijab.de: Heute sind Sie Leiter der Abteilung Freiwilliges Engagement des Diakonischen Werks Württemberg. Beim deutsch-türkischen Fachtag zu Ehrenamt und freiwilligem Engagement haben Sie einen sehr interessanten Einblick in die historische Entwicklung dieses Themas in Deutschland gegeben. Können Sie das für uns nochmal zusammenfassen?

Wolfgang Hinz-Rommel: Die wahrscheinlich früheste Form freiwilligen Engagements sind mittelalterliche Stiftungen. Bei Stiftungen wird bis heute Geld an philanthropische Zwecke gebunden – etwa der Krankenpflege oder der Armenspeisung. Ab dem 19. Jahrhundert können wir dann mehrere Traditionslinien unterscheiden. Da ist zum einen das Ehrenamt in der kommunalen Selbstverwaltung. Das umfasst zum Beispiel Schöffen, die Feuerwehr oder Wahlhelfer und diente auch der Einbindung eines Bürgertums, das Mitspracherechte einforderte – so entstand eine Art freiwillige Pflicht, die es bis heute gibt. Etwas später entsteht dann die Wohlfahrtspflege. Sie ist das Ergebnis der Armut in den Städten während der Industrialisierung. Auch das ist zunächst ein freiwilliges Engagement für Menschen in Not, das erst später professionalisiert wurde und in die Sozialsysteme mündet, wie wir sie heute kennen. Die dritte Traditionslinie sind die Vereine. Sie sind eine Form der Selbstorganisation und des Engagements für andere. Sie sind bis heute sehr präsent, etwa im Sport, bei Freizeit und Bildung, aber auch bei politischen Aktivitäten.

ijab.de: Solche Traditionslinien gibt es in der Türkei nicht oder zumindest nicht in diesem Umfang. Läuft man im Gespräch mit türkischen Kolleginnen und Kollegen Gefahr, sich zum „Entwicklungshelfer“ aufzuschwingen?

Wolfgang Hinz-Rommel: Das wäre in der Tat hochmütig, denn die jeweilige Geschichte und Kultur führen zu ganz unterschiedlichen Resultaten, die nicht besser oder schlechter sind. In Deutschland ist uns ja immer der nicht durch den Staat gelenkte Teil freiwilligen Engagements besonders wichtig – aber auch bei uns gibt es die Tradition eines staatlich eingebundenen Engagements. Ein gutes Beispiel dafür sind die Schöffen, die zwar ehrenamtlich arbeiten, aber in eine staatliche Institution integriert sind. Aber vor allem gibt es viele Menschen, die einfach sehen, wenn etwas getan werden muss und es dann tun. Das haben wir 2015 gesehen, als viele Flüchtlinge zu uns kamen, und wir haben es jetzt bei der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen wieder gesehen. Da mögen politische und religiöse Überzeugungen auch eine Rolle spielen, aber vor allem ist es ein spontaner Impuls, Menschen zu helfen. Demgegenüber nimmt die Bereitschaft sich langfristig zu engagieren ab. Das beobachten wir in vielen Bereichen – im Sport oder in den Kirchengemeinden.

Es geht auch ohne Ampeln

ijab.de: Ist in der Türkei vieles weniger durchreglementiert und macht das vielleicht auch einen Teil des Charmes aus?

Wolfgang Hinz-Rommel: Teils ja, teils nein. Mein Lieblingsbeispiel sind die Ampeln. Es ist nicht so lange her, dass es selbst in Istanbul sehr wenig Ampeln gab. Und trotzdem rollte der Verkehr. Es geht mit weniger Verregelung. Freiwilliges Engagement braucht zwar einen verlässlichen Rahmen, zum Beispiel eine funktionierende Haftpflicht- und Unfallversicherung. Das muss staatlich geregelt werden. Aber innerhalb dessen ist Freiheit wichtig. Engagement muss sich frei entfalten können. Darauf fußt unsere Gesellschaft.

ijab.de: Wie ist es denn mit den Engagement der nach Deutschland eingewanderten Menschen aus der Türkei?

Wolfgang Hinz-Rommel: Wir wissen aus Befragungen, dass sich die Eingewanderten, sofern sie die deutsche Staatsbürgerschaft haben, fast genau in dem Umfang wie die Gesamtbevölkerung engagieren. Bei denen, die noch nicht so lange in Deutschland sind, sieht es statistisch etwas anders aus. Aber wir wissen wenig darüber. Das Umfeld der Moscheen zum Beispiel und was es dort an Nachbarschaftshilfe gibt ist wenig erforscht und es wäre interessant, darüber mehr zu erfahren.

ijab.de: Was ist aus unserer Sicht interessant an den Erfahrungen in der Türkei?

Wolfgang Hinz-Rommel: Es ist ja nicht unbedingt die Aufgabe eines Austauschs, sich von anderen etwas abzuschauen. Es ist eher eine gute Gelegenheit, die eigene Praxis zu reflektieren und zu überdenken. Da kann man unglaublich viel lernen und voneinander profitieren.

ijab.de: Während des deutsch-türkischen Fachtags wurde das Beispiel Lehrerinnen und Lehrer in der Türkei genannt. Sie haben eine andere soziale Rolle und sind auch über den Feierabend hinaus für Kinder und deren Familien ansprechbar. In der sozialen Arbeit gilt ähnliches. Können wir uns davon eine Scheibe abschneiden?

Wolfgang Hinz-Rommel: Ist das wirklich erstrebenswert? Die Lehrerin trifft die Kids und deren Familien beim Einkaufen im Supermarkt und soll dann für alle Probleme ansprechbar sein – ohne Schutz ihres Privatlebens? In Deutschland kennen wir das auch, bei Lehrerinnen und Lehrern und Sozialarbeitern. In den helfenden Berufen ist es eine Kernanforderung: Wie viel Nähe lasse ich zu, wie viel Distanz brauche ich? Ich muss mich auch abgrenzen können. Nie Feierabend haben? Das ist für mich kein Ideal. Was mir in der Türkei aber immer gut gefallen hat, ist die größere Gelassenheit der Kolleginnen und Kollegen. Wir Deutschen sind ja immer schnell gestresst. Etwas mehr Gelassenheit würde uns guttun.

Vier Menschen sprechen miteinander.
Über den Austausch mit der Türkei

IJAB führt mit der Türkei Fachprogramme und Partnerbörsen durch. Außerdem bieten wir interessierten Trägern Information und Beratung zum Austausch mit der Türkei an.

Ansprechpersonen
Christiane Reinholz-Asolli
Referentin für internationale jugendpolitische Zusammenarbeit
Tel.: 0228 9506-112
Timo Herdejost
Sachbearbeitung
Tel.: 0228 9506-130