Teilnehmende am deutsch-türkischen Fachkräfteaustausch am 20.09.23 in Köln Teilnehmende am deutsch-türkischen Fachkräfteaustausch am 20.09.23 in Köln
Türkei

Von Hausbesetzern und Robotern

Deutsch-türkischer Fachkräfteaustausch zu Gast in Köln

Nach der Pandemie kann es wieder losgehen: Der diesjährige deutsch-türkische Fachkräfteaustausch fand vom 17. bis 22. September in Dortmund statt. Im Mittelpunkt: die psychische Gesundheit junger Menschen. Ein Thema, das während der Lockdowns in der Türkei früh, in Deutschland spät entdeckt wurde. Eine Exkursion nach Köln bot der Redaktion von ijab.de die Gelegenheit, den Kolleg*innen über die Schulter zu schauen.

12.10.2023 / Christian Herrmann

10:30 Uhr morgens in Köln: Der Bus mit der 15-köpfigen Gruppe des deutsch-türkischen Fachkräfteaustauschs ist gerade im Hof des Bürgerzentrums Alte Feuerwache angekommen. Es ist ein schöner Spätsommertag, die Stimmung in der Gruppe ist gut, bis zum Beginn der Führung durch das Gelände des Bürgerzentrums bleibt noch ein wenig Zeit für Kaffee und Tee. „Wir stopfen unsere Fachkräfteaustausche nicht mehr so voll wie in der Vergangenheit“, sagt IJAB-Referentin Christiane Reinholz-Asolli, „das nimmt den Stress raus und die Reflexion der einzelnen Besuchspunkte hat mehr Raum“.

Bürgerzentrum Alte Feuerwache: so bunt wie der Stadtteil

Das Bürgerzentrum Alte Feuerwache ist das, was der Name besagt: ein weitläufiges Gelände einer Feuerwache aus aus dem 19. Jahrhundert, das in den 1980er Jahren in ein soziokulturelles Stadtteilzentrum umgewandelt wurde. Birgit Breuer, die Leiterin des Bürgerzentrums erzählt aus der Historie. Ende der 1970er Jahre zog die Feuerwehr aus und die Gebäude waren schon zum Abriss bestimmt und sollten einem Schwimmbad Platz machen. Bürger*innen aus dem Stadtteil hatten andere Vorstellungen: Sie wollten ein selbstbestimmtes Stadtteilzentrum, das allen Menschen in der Nachbarschaft offen steht. Sie gründeten einen Verein und besetzten das Gelände – es war die Hochzeit der Hausbesetzungen in Westdeutschland. Der Verein konnte sich durchsetzen. Mit knapper Mehrheit stimmt der Stadtrat zunächst einer Zwischennutzung zu, 1986 eröffnet das Bürgerzentrum ganz offiziell in Trägerschaft des Vereins. Die Stadt Köln gewährt einen Betriebskostenzuschuss, die übrigen Mittel müssen – zum Beispiel durch Projektanträge – vom Verein selbst getragen werden.

Nicht ohne Stolz führt Birgit Breuer durch die vielfältigen Räume des Bürgerzentrums. Die Teilnehmerinnen des Fachkräfteaustauschs sehen eine Restaurierungswerkstatt für alte Möbel, eine Fahrradwerkstatt, professionelle Probe- und Aufführungsräume für Theater, Tanz und Konzerte. In einem Raum findet gerade ein Deutschkurs für Gehörlose statt. Auch politische und kulturelle Initiativen sowie Queers können Räume gegen ein kleines Entgelt nutzen. Viele machen von diesem Angebot regelmäßigen Gebrauch. „Das Besondere ist, dass wir für alle Menschen im Stadtteil offen stehen – unabhängig von Alter oder Herkunft“, erzählt Birgit Breuer, „das erklärt auch das große Angebot, das wir hier haben“. Für die türkischen Kolleg*innen ist das ein neues Konzept. „Wir haben in der Türkei Jugendzentren, aber eine solche Mischung haben wir nicht“, sagt eine Teilnehmerin. Trotzdem ist für die meisten das Jugendzentrum der Feuerwache am interessantesten.

So bunt wie der Stadtteil sind auch die Besucher*innen des Stadtteilzentrums. Seit einem Jahr wird es besonders stark von Jugendlichen aus der Ukraine frequentiert. Melda nimmt die Gruppe in Empfang und erzählt, wie viel Spaß ihr die Arbeit macht. Vor ein paar Wochen hat sie ihr Praxisjahr begonnen, das Teil ihres Studiums der Sozialen Arbeit ist. „Soziale Arbeit ist ein ziemlich breites Feld“, erklärt sie, „aber ich wollte immer etwas mit Kindern machen“. „Wir sind froh, dass wir Melda gefunden haben“, sagt Birgit Breuer, „sie hilft uns sehr, denn Fachkräftemangel ist auch in der Sozialen Arbeit ein großes Thema, wir finden kaum qualifiziertes Personal“. „Das ist in der Türkei genau umgekehrt“, berichtet ein türkischer Kollege, „wir haben viele gut qualifizierte junge Leute, aber wir haben Schwierigkeiten, sie in Arbeit zu bringen“.

Türkei und Deutschland: Debatten um Mediennutzung sind ähnlich

Nach der Mittagspause geht es weiter zum JFC Medienzentrum. Dort soll darüber gesprochen werden, welchen Einfluss soziale Medien auf die psychische Gesundheit junger Menschen haben. Sabine Sonnenschein und die neue Leiterin Patricia Gläfcke warten schon auf die Gruppe. Seit 1976 gibt es das JFC Medienzentrum, damals wurde es als Jugendfilmclub gegründet. Das Kürzel JFC stammt aus dieser Zeit, „aber inzwischen machen wir viel mehr, als nur Filme zeigen“, erklärt Sabine Sonnenschein. Vor zwei Jahren hat das JFC Medienzentrum Räume in in einem Neubaugebiet auf dem Gelände einer größtenteils abgerissenen Gummi- und Kunststofffabrik bezogen. Die liegen zwar nicht mehr so zentral wie die alten Büros am Kölner Hansaring, aber dafür gibt es endlich Platz und Licht.

Die Türkei ist ein junges Land, der Altersdurchschnitt der Bevölkerung liegt bei 30 Jahren. Die Digitalisierung ist weit vorangeschritten. Die Zahl der Internet-Nutzerinnen und Nutzer lag Anfang 2020 bei 63 Millionen. Über 80 Prozent der Männer und knapp 70 der Frauen loggen sich regelmäßig ins Netz ein. Bei der täglichen Verweildauer im Internet liegt die Türkei weltweit unter den 15 Top-Nutzern. Über 90 Prozent dieser Internet-Nutzer*innen sind regelmäßig in sozialen Netzwerken aktiv. Während in Deutschland die Smartphone-User verstärkt Nachrichtenportale, Routenplaner und Terminplaner nutzen, ist in der Türkei der Kurznachrichtendienst X (vormals Twitter) die beliebteste Anwendung. Diese Zahlen sorgen jedoch nicht nur für Euphorie, sie wecken auch Befürchtungen in Bezug auf Sucht, Falschinformation und weitere Einflüsse wie Pornografie, Gewaltdarstellung oder Online-Mobbing. Die Diskussionen auf fachlicher Ebene in Deutschland und der Türkei unterscheiden sich in diesen Punkten nicht wesentlich. Die Differenzen beginnen dort, wo es um staatliche Interventionen bei politischen Inhalten geht. Auch bei diesem Fachkräfteaustausch sitzt „ein Elefant im Raum“ aber das ist nur schwer ansprechbar.

Die vielfältigen Befürchtungen spiegeln sich auch in der türkischen Delegation und ihren Fragen. Anders als die deutschen Teilnehmer*innen, die weitgehend homogen aus der Jugendarbeit kommen, repräsentiert die türkische Gruppe neben Jugendarbeiter*innen auch Mitarbeiter*innen des Jugendministeriums, des Bildungsministeriums und der Jugendforschung. Das zeigt den hohen Stellenwert, der dem Austausch mit Deutschland beigemessen wird, aber es macht auch die unterschiedlichen Perspektiven auf die psychische Gesundheit junger Menschen deutlich.

Sabine Sonnenschein gibt zunächst einen Überblick über die Mediendiskussion in Deutschland und erklärt den Ansatz, den das JFC Medienzentrum verfolgt. Anders als in anderen Ländern hat in Deutschland lange der Datenschutz im Vordergrund der Debatte gestanden. Manche fragen sich allerdings, ob wir nicht inzwischen zu viel davon haben, „denn Daten werden ja auch für die Forschung gebraucht“, sagt die JFC-Referentin. Exzessive Mediennutzung hat in beiden Ländern während der Pandemie zugenommen. Ab wann man von einem Suchtverhalten sprechen kann, ist jedoch umstritten. Fakenews beschäftigt den politischen Raum seit langem und mit Künstlicher Intelligenz (KI) ist ein weiteres Thema hinzugekommen, das Befürchtungen weckt.

Die Interessen junger Menschen ernst nehmen

Das deutsche System ist ein arbeitsteiliges System. Für den Jugendmedienschutz sind eigene Institutionen zuständig, bei Suchtverhalten macht die Drogenhilfe Angebote. Das JFC Medienzentrum steht hingegen für Medienkompetenz, für kreative und partizipative Angebote. So hat das JFC zum Beispiel lange ein IJAB-Projekt zum Jugendverbraucherschutz unterstützt, in dem eine Jugendredaktion über einen Instagram-Kanal Verbraucherschutzthemen jugendgerecht aufbereitete. Eine Radioredaktion produziert eine Sendung, die von einem Kölner Lokalsender ausgestrahlt wird. Fotos, Videos und Animationen können selbst gestaltet und die notwendige Technik dafür erlernt werden. Das Kinderfilmfest Cinepänz ist immer noch eine der bekanntesten Marken des JFC Medienzentrum. Neu im Programm ist „Making“, das Entwickeln neuer Gegenstände aus schon bestehenden Elektronik-Komponenten. Beim Rundgang durch die Arbeitsräume holt Patricia Gläfcke eines ihrer Lieblingsobjekte aus dem Schrank: Eine Topfbürste, die sich Dank einfachster Bauteile bewegen kann. Etwas ziellos wuselt der kleine Roboter über den Boden. Das macht Spaß, macht deutlich, worum es bei Medienpädagogik geht, und man spürt, wie der Funke bei den Besucher*innen überspringt. „Wir bewerten die Medieninteressen von jungen Menschen nicht“, sagt Sabine Sonnenschein, „wir nehmen sie ernst und zeigen, was möglich ist“.

Auch wenn alle schon etwas müde sind, am Ende des Tages gibt es noch etwas, auf das sich besonders die türkischen Teilnehmer*innen gefreut haben: Alle wollen den Kölner Dom besuchen. Vielleicht findet sich auch noch das eine oder andere Mitbringsel für Familie und Freunde. Danach bleibt noch Zeit für ein gemeinsames Essen und Gespräche, in denen man den Tag Revue passieren lassen kann. Auch das gehört zu einem Fachkräfteaustausch.

Der nächste deutsch-türkische Fachaustausch von IJAB  – diesmal zum Thema Jugendmedienkompetenz – findet vom 29.10. bis 03.11.2023 in Ankara statt.

Vier Menschen sprechen miteinander.
Über den Austausch mit der Türkei

IJAB führt mit der Türkei Fachprogramme und Partnerbörsen durch. Außerdem bieten wir interessierten Trägern Information und Beratung zum Austausch mit der Türkei an.

Ansprechpersonen
Christiane Reinholz-Asolli
Referentin für internationale jugendpolitische Zusammenarbeit
Tel.: 0228 9506-112
Timo Herdejost
Sachbearbeitung
Tel.: 0228 9506-130