Eine Gruppe junger Frauen posiert auf der Treppe eines verlassenen Hauses Eine Gruppe junger Frauen posiert auf der Treppe eines verlassenen Hauses
Teilnehmerinnen am „Bakhmut Street Art Camp“, 2021
Demokratie und Menschenrechte

„Wir müssen über den russischen Angriffskrieg sprechen“

Junge Menschen aus der Ukraine brauchen den Austausch

Die Filmemacherin Tetiana Kriukovska ist die Leiterin von „Tolerance in You“, einer NGO, die Kunst nutzt, um mit jungen Menschen über schwierige Themen zu sprechen und dabei Methoden der nicht-formalen Bildung einsetzt. Sie floh 2022 nach Deutschland, kurz nach der vollflächigen russischen Aggression gegen die Ukraine. Einige Vorstellungen in Deutschland zum Jugendaustausch mit der Ukraine irritieren sie. Im Interview mit IJAB erklärt sie, warum das so ist, und beschreibt einige grundsätzliche Anforderungen, wie Begegnungen junger Menschen verbessert werden können.

17.05.2023 / Christian Herrmann

ijab.de: Tetiana, es gibt ein ukrainisches Netzwerk von Mediatoren und Dialog-Vermittlern, das ein Papier mit dem Titel 7 Punkte zu Krieg und Dialog veröffentlicht hat. Darin sprechen sie sich unter anderem gegen einen zivilgesellschaftlichen Austausch zwischen der Ukraine und Russland aus, solange der Krieg andauert. Kannst du das aus deiner Perspektive in Bezug auf den Jugendaustausch kommentieren?

Tetiana Kriukovska: Weil es unethisch ist, während einer Aggression das Opfer zu einem Dialog mit dem Aggressor aufzufordern. Jeden Tag werden in der Ukraine Zivilist*innen von der russischen Armee getötet. Jeder einzelne Mensch in der Ukraine leidet unter der russischen Aggression. Stell dir vor, junge Menschen aus der Ukraine und Russland säßen während eines Jugendaustauschs in einem Raum. Stell dir vor, was die Verwandten oder Freunde dieser Russen in diesem Moment tun. Vielleicht bringen sie Menschen in der Ukraine um. Oder sie zahlen Steuern in Russland und finanzieren damit die russische Aggression in der Ukraine. So können sich Jugendliche aus der Ukraine fühlen.

Zu verlangen, dass Jugendliche aus der Ukraine und Jugendliche aus Russland miteinander reden, bedeutet, den Aggressor und das Opfer auf dieselbe Stufe zu stellen. Ich habe diese Idee, dass wir miteinander reden müssen, nur in Deutschland gehört. Niemand von unseren anderen internationalen Partnern fordert das. Es gibt einige Gründe, warum das in Deutschland so ist, und ich denke, es ist wichtig, darüber nachzudenken.

Der erste Grund ist, dass es in Deutschland Tradition ist, eine Diskussion zu führen, bei der sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen und über das Problem reden sollen. Was die Menschen in Deutschland vergessen, ist, dass der Krieg nicht vorbei ist, sondern seit 9 Jahren Tag für Tag weitergeht. Ob wir jemals wieder miteinander reden können, hängt von den Zivilgesellschaften beider Länder ab. Vielleicht wird die nächste Generation dazu in der Lage sein, aber das hängt von der Position Russlands ab, nachdem es militärisch vollständig besiegt ist und keine Ressourcen mehr für imperialistische Ziele hat. Im Moment sind viele junge Menschen in der Ukraine enttäuscht über das Schweigen der russischen Zivilgesellschaft in den letzten 9 Jahren, außerdem sind sie wütend über die Unterstützung der militärischen Aggression durch die russische Zivilgesellschaft.

Der zweite Grund ist die Reflexion in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, die auf dem Motto "Nie wieder" basiert, also "Nie wieder Krieg". Aber hier fehlt die öffentliche Reflexion über den Imperialismus, der nie wieder hätte stattfinden dürfen. Deutschland will "nie wieder Krieg", ohne gleichzeitig auf den russischen Imperialismus zu reagieren.

Der dritte Grund ist: Deutschland scheint eine große Toleranz gegenüber Russland zu haben, die auf einer Fehlinterpretation der Geschichte beruht, einer historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Russland. Aber es waren nicht nur die russische Armee und Bevölkerung, die durch die deutsche Wehrmacht schreckliche Verluste erlitten, und es war nicht nur Russland, das von den Nazis verwüstet wurde. Es waren auch die Ukraine, Belarus, Moldawien, Georgien und andere Sowjetrepubliken, und Menschen aus all diesen damaligen Sowjetrepubliken kämpften in der Roten Armee und waren als Zivilist*innen Kriegsverbrechen ausgesetzt. Viele Deutsche sehen das nicht, und deshalb sind sie gegen die Lieferung von Waffen, die gegen Russland eingesetzt werden. Das wird möglicherweise dazu führen, dass Moldawien oder Litauen die nächsten Länder sind, die von Russland angegriffen werden.

Die jungen Menschen in der Ukraine erwarten eine Unterstützung, die ihren Bedürfnissen entspricht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt verspüren sie kein Bedürfnis, mit Menschen in Russland zu reden. Wenn Menschen in Deutschland immer noch glauben, dass der Dialog mit Menschen aus Russland heute hilft, dann können sie das gerne tun, ohne Jugendliche aus der Ukraine einzubeziehen. Junge Menschen aus der Ukraine haben in dieser Situation ein Recht auf Hass und unsere Aufgabe ist es, sie zu unterstützen. Dafür gibt es viele Methoden aus unserer 9-jährigen Erfahrung.

Junge Menschen aus der Ukraine: Informationen aus erster Hand

ijab.de: Mit welchen Ländern wäre ein Jugendaustausch für ukrainische junge Menschen derzeit sinnvoll? Ist er unter den Bedingungen des Krieges überhaupt machbar?

Tetiana Kriukovska: Der Jugendaustausch ist tatsächlich sehr wichtig. Nach der vollflächigen Invasion befinden sich viele junge Menschen in der Ukraine in einem Zustand der Isolation. Sie brauchen den Austausch mit anderen, aber es braucht auch den richtigen Rahmen dafür. Wenn junge Menschen aus der Ukraine nach Polen oder Deutschland kommen, erleben sie eine andere Realität, in der das Leben normal weitergeht. Deshalb wollen sie sich mitteilen, sie wollen darüber sprechen, was sie zu Hause erleben und welche Zerstörung die russische Aggression anrichtet. Wir haben eine sehr aktive Zivilgesellschaft, die über die Lage in der Ukraine informieren kann und will. Wenn wir also zu einem Austausch zusammenkommen, müssen wir über die russische Aggression sprechen und Informationen darüber weitergeben. Wir können den Krieg nicht verhindern, aber wir können eine starke Stimme gegen die russische Propaganda sein. Junge Deutsche oder Polen können von uns Informationen aus erster Hand bekommen und etwas daraus lernen.

Ich bin Filmemacherin und glaube, dass Kunst eine gute Therapie ist und eine gute Möglichkeit, über schwierige Themen zu sprechen und Gefühle auszudrücken. Heutzutage können viele künstlerische Methoden der nicht-formalen Bildung eingesetzt werden.

ijab.de: In erwähntem 7-Punkte-Papier steht: „Keine Mediation ohne ukrainische Mediatoren“. Ich habe das für mich übersetzt mit: „Redet mit uns und nicht über uns“. Ist es das, was gemeint ist?

Tetiana Kriukovska: Ja, natürlich. Aber das ist kein neues Prinzip. Es ist eine der Grundregeln der Kommunikation. Wenn wir über Abtreibung sprechen, wollen wir nicht nur Männer zu Wort kommen lassen, sondern es ist für uns selbstverständlich, dass auch die Betroffenen Frauen gehört werden. Behandelt also bitte Menschen aus der Ukraine, die nach Deutschland geflohen sind, nicht wie Objekte, sondern wie eigenständig handelnde Menschen, die über sich selbst bestimmen. Ich verstehe, dass der Zustrom vieler Flüchtlinge Diskussionen in der deutschen Gesellschaft auslöst – und die Menschen aus der Ukraine sind nicht die ersten und einzigen, die hierherkommen. Es ist wichtig, dass eine Vielfalt von Meinungen und Perspektiven auf den Tisch kommt. Alle müssen gehört werden – auch wir. Wir sind uns bewusst, dass das eine Herausforderung ist.

Was den Jugendaustausch betrifft: Moderator*innen aus der Ukraine sind wichtig, denn nur sie können das Verhalten der Teilnehmer*innen aus der Ukraine richtig einschätzen. Ohne sie wird eine Begegnung unsicher, weil die deutschen Teammitglieder nicht verstehen können, aus welchem Kontext heraus ein Verhalten entstanden ist. Wenn Teilnehmer*innen aus der Ukraine nach Deutschland oder Polen kommen, haben sie meist noch ihre Familien und Freunde zu Hause. Das löst Ängste aus, die für deutsche Teammitglieder schwer nachvollziehbar sind, und führt möglicherweise auch zu Verhaltensweisen, die sie nicht einordnen können. Moderator*innen aus der Ukraine tragen daher zur Qualität einer Begegnung bei, indem sie einen sicheren Raum für die Teilnehmer*innen schaffen.

Eine letzte Bemerkung: Ich ziehe es vor, von Menschen aus der Ukraine zu sprechen, nicht nur von Ukrainer*innen. Wir sind ein multiethnisches Land mit vielen verschiedenen Identitäten und wir schließen niemanden aus.

Mehr Informationen zu Tolerance in You: https://www.toleranceinyou.com/

Ein junger Mann spricht in ein Mikrofon
Über Demokratie und Menschenrechte

Internationale Jugendarbeit und jugendpolitische Zusammenarbeit versteht IJAB als Beitrag zur Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft und zur Förderung eines demokratischen Gemeinwesens.